Der Nubbel

Der Nubbel, was ist das?

Wie ein heidnisches Ritual in den kölschen Thekenkarneval geriet.
(Text von Dr. Rolf Sistermann, 1989)

Es dauert nicht mehr lange, nur noch wenige tolle Tage, dann ist es soweit: Um Mitternacht am Karnavalsdienstag verstummt in der Eckkneipe plötzlich die laute Musik. Auch die jecken Gäste, die sich eben noch lachend, bützend und schunkeInd in den Armen lagen, werden auf einmal still, soweit der angestiegene Kölschpegel es zulässt. Eine Frau tritt ans Mikrofon. Sie verliest eine endlose Litanei auf Kölsch. Von Weh und Schmerz ist die Rede, von Abschied und Trauer, weil jemand sterben müsse, einer, den man doch so geliebt habe und der unter den Männern, den „Kähls“, doch der Beste gewesen sei, einer, den man nie vergessen, der in den Herzen aller weiterleben werde. Klagerufe werden laut, und alles beginnt zu schluchzen. Doch plötzlich schlägt die Stimmung um ins absolute Gegenteil. Aus Wehgeschrei wird Hassgesang. Der, den man eben noch betrauerte, ist nun Objekt der wüstesten Beschimpfungen: „Dä fiese Möpp“ habe sich ja nur rumgetrieben habe seine Frau allein gelassen, ihr Geld durchgebracht, sie belogen und betrogen, sei hinter anderen Weibern her und überhaupt „ne Fuulenzer, ne Afjebröhte, ne Filu“ gewesen und den Tod wirklich verdient. Man solle ihn verbrennen. Alle drängen nun aus der Kneipe hinaus auf die Straße. Dort liegt mitten auf der Kreuzung ein Mann in bunten Kleidern – eine Strohpuppe, die selbe, die seit Donnerstag, seit Weiberfastnacht, über der Tür der Eckkneipe gebaumelt hatte: Der Nubbel.

Ein Kreis wird gebildet, brennende Fackeln werden verteilt. Einer spielt auf der „Quetschenbüggel“ traurige Melodien. Schaurig dröhnt die „Decke Trumm“. Noch einmal erklingt das Lied vom treuen Husar und das letzte „Ajuja“. Dann wird die Strohpuppe angezündet und geht in Flammen auf.

Die makabre Szene könnte den Eindruck erwecken, als seien die Mitwirkenden von allen guten Geistern verlassen. Was ist hier eigentlich los? Fragt man die Leute, sagen die nur: „He weed der Nubbel verbrannt.“ Wer das ist und was das soll, das weiß anscheinend keiner.

Adam Wrede, der großen Sammler und Autor des „Kölnischen Sprachschatzes“ wusste es offenbar auch nicht so genau. Bei ihm ist lediglich nachzulesen, dass der Nubbel nur ein anderes Wort ist für „Zacheies“, der im Landkölnischen als Verkörperung der Kirmes gefeiert und verbrannt wurde.

In Köln selber war diese Sitte lange unbekannt. 1913 wurde in dem Dorf Buchheim bei Köln-Mülheim die Kirmesfeier kurz vor der Eingemeindung des Ortes in die Stadtgemeinde Köln wegen der in der Zeitung angekündigten Verbrennung des Zacheies polizeilich verboten. Erst um etwa 1950 ist der erste Nubbel innerhalb der Mauern Kölns bei der Kirmesfeier der Pfarre Sankt Severin öffentlich aufgestellt worden.

Seit wenigen Jahren hat er nun Hochkonjunktur. Jede Kneipe, die etwas auf sich hält, versammelt ihre eigene Gemeinde zu diesem schaurig-schönen Ritual. Fast scheint es, als ob der erfolgreiche Einzug dieser merkwürdigen Zeremonie in das alte „Hellige Kölle“ parallel verläuft mit dem wachsenden Auszug enttäuschter Gläubigen aus der Kirche. Das heidnische Ritual aus uralter Zeit, das auf dem Lande die Jahrtausende überdauerte, versteckte nun sich nicht mehr länger vor den Augen des nahen Erzbischofs.

Was hat die Verbrennung des Nubbel mit Religion zu tun?

Eines jedenfalls scheint sicher: der Sündenbock, das unschuldige Opfer, spielt eine besondere Rolle dabei, und deshalb ist die Kirche nicht fern.

Im Zuge von „New Age“ ist Religionsgeschichte derzeit wieder in. Dazu hat wohl nicht zuletzt der Bestseller „Die Nebel von Avalon“ von Marion Zimmer-Bradley beigetragen, die in dem Buch ein jährliches Fest im alten Britannien beschreibt: Ein von allen geliebter Mann soll sein Leben lassen (oder zumindest aufs Spiel setzen), indem er, als Hirsch verkleidet, mit dem stärksten Hirsch des Waldes kämpfen muss, damit nach keltischem Brauch das natürliche Gleichgewicht bewahrt bleibe: „Opfer steht gegen Opfer. Die Hirsche starben für den Stamm, und zum Ausgleich mußte ein Mann der Stämme für das Leben der Hirsche sterben … Und deshalb wählte die Mutter des Stammes Jahr für Jahr ihren Gefährten. Und, da er sich bereit erklärt hatte, sein Leben für die anderen hinzugeben, opferte der Stamm ihm alles, was er hatte.“

In Köln heißt dieser Jahreskönig „Nubbel“. Er muss zwar nicht mit den Hirschen laufen, aber auch er muss Jahr für Jahr sterben, stellvertretend und als Sühne für alle, denen Hörner aufgesetzt wurden.

Der erste, der eine Fülle von Belegen für die Tötung eines solchen Jahreskönigs in den verschiedenen Religionen und Kultur zusammengetragen hat, war James Frazer: In seinem 1890 erschienenen Buch „Der goldene Zweig“ stellt er eine Verbindung mit dem „Begraben des Karnevals“ her. Frazer bringt Beispiele aus Italien, Spanien, der Provence, den Ardennen, der Normandie und Tübingen. Der kölsche Nubbel kommt dabei natürlich noch nicht vor.
Hier eine Textprobe:
In manchen Ardennendörfern spielte ein junger Mann von Fleisch und Blut in Heu und Stroh gekleidet die Rolle des Fastnachtsdienstag (Mardi Gras), wie die Verkörperung des Karnevals in Frankreich nach dem letzten Tag der von ihm versinnbildlichten Zeit oft genannt wird. Er wurde vor ein Scheingericht geführt, zum Tode verurteilt und mit dem Rücken gegen die Wand gestellt wie ein Soldat bei einer militärischen Exekution, und man schoss mit blinden Patronen nach ihm. Zu Vrigne-aux. Bois wurde eine dieser harmlosen Possenreißer, namens Thierry, aus Versehen durch einen in einer Muskete der Feuernden zurückgebliebenen Pfropfen getötet. Als der arme Fastnachtsdienstag unter dem Feuer zusammenbrach, war der Beifall laut und anhaltend, er tat es so natürlich; als er indessen nicht wieder aufstand, lief man herzu und fand, dass er tot war. Seitdem hat es keine Scheinexekutionen in den Ardennen mehr gegeben.“

Den Titel für sein Werk – „Der goldene Zweig“ – wählte Frazer übrigens nach einem Bild von William Turner, auf dem die Einsetzung des Priesters an dem Heiligtum der Diana am Waldsee Nemi bei Rom dargestellt ist. Der tiefere Sinn dieser Szene: Erst wenn der Priester seinen Vorgänger ermordet hatte, konnte er einen Zweig von dem goldenen Baum brechen und übernahm damit das Amt, immer auf der Hut vor seinem möglichen Nachfolger.

Priesterkönige wurden in vielen Kulturen nur für eine bestimmte Periode – auf ein Jahr bis zwölf Jahre – ausgewählt und anschließend getötet. Oft war der Glaube an den Gott oder die Göttin und die Identifikation mit deren Wünschen so stark, dass diese Priesterkönige sich zu ihrem eigenen Ruhm und zum Ruhm der Gottheit selbst öffentlich als Opfer darbrachten – eine Rolle, die in der heutigen Gesellschaft etwa Formel-Eins-Rennfahrer oder Kunstflugpilot übernehmen.

Der britische Gelehrte und Literat Robert von Ranke-Graves („Ich, Claudius, Kaiser und Gott“) deutet in seiner „Griechischen Mythologie“ solche Priesterkönigsopfer als Überbleibsel „des Matriarchats in einer archaischen Gesellschaft“, die durch die Herrschaft der Frau bestimmt war, weil der Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt in den Gruppenehen und infolgedessen die Funktion des Mannes für das Überleben des Stammes noch unklar war. Solche Opferriten liegen nach Meinung von Ranke-Graves fast allen griechischen Mythen zugrunde: Dionysos, Attis, Osiris, Tamuz, Ödipus, Orest – sie alle werden getötet, zerrissen, geblendet oder verfolgt.

Mit der Machtübernahme durch die Männer und der Errichtung des Patriarchats konnten solche Feiern gewissermaßen nur noch „im Untergrund“ stattfinden. Bei den dionysischen Mysterien zum Beispiel berauschten sich die Frauen an Wein und vermutlich auch an Fliegenpilzen, dem Göttertrank Ambrosia, um dann als „rasende Mänaden“ schwärmend und lärmend durch die Wälder zu ziehen.

In der Tragödie „Die Bakchen“ schildert Euripides, wie der König Pentheus von Theben der sich der Herrschaft des Dionysos widersetzen will, von seiner eigenen Mutter als Anführerin der Bacchantinnen zerrissen wird. Diese wilden, archaischen Feste finden in der patriarchalischen gebändigt und „kultiviert“ ihr Ventil in der klassischen Tragödie, dem „Bocksgesang“ zu Ehren des Gottes Dionysos. Aus den rasenden Mänaden wird der Chor, der dann etwa als die Erinnyien den Muttermörder Orest in der Wahnsinn treiben.

So ist auf dem Theater mitten im christlichen Abendland ein „heidnischer“ Kult seinen Spuren über die Jahrhunderte lebendig geblieben. Das Verbot der Verbrennung des Zacheies 1913 in Köln-Buchheim ist nun genauso erklärbar wie das Verbot von Theateraufführungen im puritanischen England unter Oliver Cromwell: In beiden Fälle ging es um den hilflosen, vergeblichen Versuch, dem scheinbar unausrottbaren Heidentum Einhalt zu gebieten.

Es mag vielleicht schwerfallen zu glauben, dass zweihundert Jahre nach dem Zeitalter der Aufklärung religiöse Riten wie Opferrituale, mögen sie nun heidnisch oder christlich interpretiert werden, noch solch ein Bedeutung haben sollen. Doch der französische Kulturwissenschaftler René Girard gibt für das merkwürdige Weiterleben religiöser Rituale eine tiefgründige Erklärung: Die gesamte Kulturgeschichte sei von dem Bedürfnis des Menschen bestimmt einen Unschuldigen der Gemeinschaft zu opfern. Die natürliche Rivalität unter den Menschen sei so groß, dass sie immer wieder die Gemeinschaft zu zerstören drohe – und deshalb müsse regelmäßig ein Sündenbock her, an dem sich die allgemeine Aggressivität abreagieren könne.

In der Bibel, die ja als ganze eine opferkritische Tendenz hat wird nach Girards Meinung dieser verhängnisvolle Zusammenhang entlarvt. Aber die Kirche habe dieses kostbare humane Erbe schlecht verwaltet und feiere die Opferrituale wie in heidnischen Religionen weiter, nur unter anderem Namen. Die Kirche nennt sie Messopfer. Auf das Blut kann, wenn auch in gewandelter Form, anscheinend nicht verzichtet werden.

So ist den Menschen auch nach zweitausend Jahren Christentum die Lust am Opfern nicht vergangen, und wenn ihnen die Kirchen zu langweilig geworden sind, suchen sie nach anderen Gelegenheiten, um ihr Bedürfnis nach dem heiligen Schauder im Anblick hingerichteter Opfer zu befriedigen und sei es die Fernsehleiche zum Abendessen oder die Nubbelverbrennung zum Ausklang des Karnevals.

Dass der Ausdruck „Nubbel“ sowohl eine Bezeichnung für „niemand“ als auch für „jedermann“ sein kann, wie Sprachforscher Adam Wrede bemerkt, passt genau in diesen Zusammenhang: Das Opfer könnte eben jeder sein. Und warum wohl singen die Männer, je näher der Karnevalsdienstagabend heranrückt, um so lauter, warum wohl „bützen“ sie um so leidenschaftlicher und „suffe“ um so mehr? Weil sie wissen, dass die Frauen, die am „Wiewerfastelovend“ die Macht übernommen haben, am Aschermittwoch den Männern ihr letztes Stündchen bereiten, auf dass für sie am Aschermittwoch wirklich „alles vorbei“ ist…